Lavinia Schulz

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Lavinia Schulz; undatiertes Selbstporträt
Expressionistische Tanzstudie Tanzbertchen der Tänzerin Lavinia Schulz. Fotografie von Minya Diez-Dührkoop, 1924.
Ganzkörpermaske von Lavinia Schulz, gezeigt auf der Ausstellung „Sturm-Frauen“ in der Kunsthalle Schirn, Frankfurt (2015/2016)
Erinnerungsstein im Garten der Frauen auf dem Friedhof Ohlsdorf
Gedenktafel für Lavinia Schulz am Gewerkschaftshaus Hamburg

Lavinia Berta Schulz (* 23. Juni 1896[1] in Lübben (Spreewald); † 19. Juni 1924 in Hamburg) war eine deutsche expressionistische Schauspielerin und Maskentänzerin.

Leben und Werk[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Mit 16 Jahren ging Lavinia Schulz nach Berlin, um akademisches Zeichnen zu studieren.[2] Um 1917 lernte sie dort Lothar Schreyer kennen, Redakteur der expressionistischen Zeitschrift Der Sturm und Leiter der Sturm-Bühne in Berlin, wo Schulz als Schauspielschülerin blieb.[3] 1918 war ihr Nacktauftritt im Drama Sancta Susanna von August Stramm ein Skandal. 1919 folgte Schulz Schreyer nach Hamburg, der dort die Kampfbühne gründete.[2][3]

In Hamburg richtete sich Lavinia Schulz eine Schneiderwerkstatt ein, um davon ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.[4] Zahlreiche avantgardistische Modeentwürfe sind im Museum für Kunst und Gewerbe erhalten.[5] Bei der Kampfbühne lernte Schulz den Schauspieler Walter Holdt (* 20. Dezember 1899 in Hamburg[1]) kennen, den sie 1921 heiratete. 1923 bekamen sie einen Sohn, Hans Heinz.[6]

Ab 1919 entwarfen Schulz und Holdt gemeinsam Tanzvorführungen in eigens dafür entwickelten Ganzkörperkostümen. Seit 1921 wurden ihre Aufführungen vom avantgardistischen Komponisten Hans Heinz Stuckenschmidt musikalisch begleitet, mit dem sie zeitweilig auch ihre Souterrain-Wohnung am Besenbinderhof teilten, die auch als Probenraum und Atelier für den Maskenbau diente. Auch auf den populären Hamburger Künstlerfesten – wie die Götzenpauke 1921 im Curiohaus – traten sie auf.[2]

Am 18. Juni 1924 erschoss Lavinia Schulz ihren 25-jährigen Ehemann, alarmierte die Nachbarschaft, und versuchte dann, sich selbst zu erschießen. Sie starb am folgenden Tag an ihren Verletzungen. Das Motiv für die Tat wurde nie endgültig geklärt.[3] Ein Grund könnten finanzielle Schwierigkeiten gewesen sein, da das Künstlerpaar seine Tanzvorstellungen dem Publikum ohne Bezahlung vorführte.[2]

Bereits im März 1925 fand im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe eine Gedächtnis-Ausstellung mit den Masken des Künstlerehepaares statt. Danach gerieten Lavinia Schulz und Walter Holdt in Vergessenheit. Erst 1988 wurden auf dem Dachboden des Museums drei Kisten mit rund 20 Ganzkörpermasken von dem Kuratoren Nils Jockel wiederentdeckt. Die Kostüme wurden restauriert und 1989 in der Ausstellung „Flugkraft in goldene Ferne...“ – Bühnentanz in Hamburg seit 1900 und 2006 in der Ausstellung Entfesselt – Expressionismus in Hamburg um 1920 der Öffentlichkeit gezeigt.[2][3] Zwölf der erhaltenen Ganzkörpermasken sind in der Dauerausstellung des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe zu sehen.[7] Anlässlich der Ausstellung wurden in einem Projekt der Hochschule für Musik und Theater Hamburg und der Anna-Siemsen-Schule, Fachschule für Gewandmeister, Repliken ausgewählter Masken hergestellt, Sequenzen ihrer Tänze anhand der erhaltenen Tanz- und Bewegungsschriften rekonstruiert und unter dem Titel Maskensturm zur Aufführung gebracht.[8] Im Gegensatz zu den Originalen, die aus konservatorischen Gründen nicht transportfähig sind, können die Repliken als Ausstellungsexponate auf Reisen gehen. Sie waren u. a. 2011 in der Ausstellung Danser sa vie. Art et danse de 1900 à nos jours im Centre Pompidou in Paris und 2022 in der Ausstellung The Milk of Dreams auf der 59. Biennale di Venezia zu sehen.[9]

Das Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg bewahrte neben den Ganzkörpermasken, Kostümen und Accessoires auch ihren grafischen und schriftlichen Nachlass. Das Inventar in der Grafischen Sammlung umfasst über 350 Zeichnungen, Entwurfskizzen für Masken und Bühnenkostüme, Modezeichnungen, Bewegungsskizzen und ein Drehbuch. In ihren sogenannten Tanzschriften, die wie Partituren aufgebaut sind, hielt Schulz die Bewegungen auf der Bühne aus verschiedenen Perspektiven fest. Zu den erhaltenen Archivalien gehören handschriftliche Briefentwürfe und Notizen.

In Hamburg erinnert auf dem Ohlsdorfer Friedhof im Bereich des Gartens der Frauen ein Element der Erinnerungsspirale an Lavinia Schulz. Der Verein Garten der Frauen e.V. und die Geschichtswerkstatt St. Georg haben am Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof eine Erinnerungstafel für Lavinia Schulz angebracht. Das Leben und die Kunst von Lavinia Schulz und Walter Holdt sowie ihre Relevanz für die Gegenwart stehen im Mittelpunkt des 2019 erschienenen Romans Pixeltänzer von Berit Glanz[10].

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Kirsten Beuster: „Gegen den Strom …“ – Die expressionistischen Masken-Tänzer Lavinia Schulz und Walter Holdt. In: Lichtwark-Heft Nr. 72. Verlag HB-Werbung, Hamburg-Bergedorf 2007. ISSN 1862-3549.
  • Karl Toepfer: Empire of Ecstasy. Nudity and Movement in German Body Culture, 1919–1935 (= Weimar and now, Band 13). University of California Press, Berkeley [u. a.] 1998, ISBN 0-520-20663-0, S. 214–216 (Biografie von Walter Holdt und Lavinia Schulz, englisch)
  • Ralf Beil, Claudia Dillmann (Hrsg.): Gesamtkunstwerk Expressionismus. Kunst, Film, Literatur, Theater, Tanz und Architektur 1905 bis 1925. Hatje Cantz, Ostfildern 2010, ISBN 978-3-7757-2712-9, S. 432–445 (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung Mathildenhöhe Darmstadt, 24. Oktober 2010 bis 13. Februar 2011)
  • Athina Chadzis: Die expressionistischen Maskentänzer Lavinia Schulz und Walter Holdt (= Studien und Dokumente zur Tanzwissenschaft, Band 1). Lang, Frankfurt am Main [u. a.] 1998, ISBN 3-631-33057-X; zugleich: Magisterarbeit, Universität Hamburg, 1994
  • Athina Chadzis: Gegen den Strom. Die Maskentänzer Lavinia Schulz, Walter Holdt. In: Tanzdrama Magazin. Nr. 32, März 1996, S. 16–23.
  • Athina Chadzis: Lavinia Schulz. In: Frauen im Hamburger Kulturleben. Elsbeth Weichmann, Gertrud Bing, Anita Rée, Lavinia Schulz, Annemarie Marks-Rocke, Eliza Hansen. Hg. Von der Elsbeth Weichmann Gesellschaft e.V. Hamburg, 2002, ISBN 3-7672-1403-2
  • Dianne S. Howe: Individuality and Expression. The Aesthetics of the New German Dance, 1908–1936 (= New studies in aesthetics, Band 24). Lang, New York [u. a.] 1996, ISBN 0-8204-2656-3.
  • Rüdiger Joppien u. a. (Hg.): Entfesselt. Expressionismus in Hamburg um 1920. Katalog, Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg 2006, ISBN 978-3-923859-64-1, ISBN 3-923859-64-3 (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung vom 25. Februar bis 5. Juni 2006).
  • Lothar Schreyer: Expressionistisches Theater. Aus meinen Erinnerungen (= Hamburger Theaterbücherei, Band 4). Toth, Hamburg 1948.
  • Ingrid Pfeiffer, Max Hollein (Hrsg.): Sturm-Frauen: Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin 1910–1932. Wienand, Köln 2015, ISBN 978-3-86832-277-4 (Katalog der gleichnamigen Ausstellung, Schirn Kunsthalle Frankfurt, 30. Oktober 2015 bis 7. Februar 2016).
  • Nils Jockel: Die Maskentänzer Lavinia Schulz und Walter Holdt, („Flugkraft in goldene Ferne...“, Bühnentanz in Hamburg seit 1900, Hamburg, 1989, Katalog der gleichnamigen Ausstellung, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, 1989)
  • Danser sa vie. Art et danse de 1900 à nos jours, Catalogue d'exposition (Paris, 23 novembre 2011- 2 avril 2012), Paris, Éditions du Centre Pompidou, 2011, ISBN 978-2-84426-525-8

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Commons: Lavinia Schulz – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b Artikel über Lavinia Schulz und Walter Holdt
  2. a b c d e Belinda Grace Gardner: „Entfesselt“ fesselt. Expressionismus-Ausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe. In: Welt. 19. Februar 2006 (Artikel zur Ausstellung Entfesselt – Expressionismus in Hamburg um 1920)
  3. a b c d Reinhard Krause: Fegefeuer und Nahrungssorgen. Auf: taz.de, 18. März 2006 (Artikel zur Hamburger Ausstellung Entfesselt – Expressionismus in Hamburg um 1920)
  4. Handschriftliche Briefe von Lavinia Schulz an ihre Tante Dora, Anfang 1920. Sammlung Grafik und Plakat im Museum für Kunst und Gewerbe.
  5. Arbeiten von Lavinia Schulz in der Sammlung Online des MK&G. MK&G Hamburg, abgerufen am 7. Oktober 2023.
  6. Karl Toepfer: Empire of Ecstasy. Nudity and Movement in German Body Culture, 1919–1935 (= Weimar and now, Band 13). University of California Press, Berkeley [u. a.] 1997, ISBN 0-520-20663-0, S. 214–216 (Biografie von Walter Holdt und Lavinia Schulz, englisch)
  7. Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg – Rundgang 1.OG
  8. REINHARD KRAUSE: Fegefeuer und Nahrungssorgen. In: Die Tageszeitung: taz. 18. März 2006, ISSN 0931-9085, S. 1005 (taz.de [abgerufen am 12. August 2023]).
  9. Arsenale See on Google Maps: Biennale Arte 2022 | Lavinia Schulz e Walter Holdt. 14. April 2022, abgerufen am 12. August 2023 (englisch).
  10. Berit Glanz: Pixeltänzer. Schöffling, Frankfurt am Main 2019, ISBN 978-3-89561-192-6.