Anonymität - ein Verbrechen?

03.08.2017
G DATA Blog

Ein derzeit heiß diskutiertes Thema sind Gesetzgebungen, die die Nutzung von Technologien wie VPN und TOR regulieren. Eines der Hauptargumente, die gegen diese Technologien ins Feld geführt werden, ist die Terrorismusbekämpfung und der „Entfernung terroristischer Inhalte“ aus dem Netz. Einige Experten stellen den Nutzen dieser Maßnahmen offen in Frage.

Cui bono? Der Gedanke hinter Anonymisierung

Das Argument, dass jemand, der nichts zu verbergen hat, auch nichts befürchten muss, ist schon dutzendfach widerlegt, daher gehe ich hier auch nicht weiter darauf ein. Es ist eine Tatsache, dass Menschen aus verschiedenen Gründen kein Interesse daran haben, dass ihre Bewegungen im Netz ohne weiteres rückverfolgbar sind. Dies können Menschen sein, die von politischer Verfolgung bedroht sind und versuchen, Nachrichten und Informationen aus dem Rest der Welt zu erhalten, zu denen sie sonst keinen Zugang haben. Ebenso nutzen Journalisten die Möglichkeiten der Anonymisierung, um ihrerseits Informationen zu erhalten und gleichzeitig ihre Quellen zu schützen. Niemandem kann daran gelegen sein, dass beispielsweise ein Journalist, der investigativ arbeitet, dazu gezwungen wird, Leib und Leben seiner selbst oder eines Informanten zu gefährden. Gerade in Ländern, in denen das bloße Besuchen ausländischer Nachrichtenportale oder Social Media-Plattformen bereits schwer bestraft wird, spielt Anonymität im Netz unter Umständen eine im wahrsten Sinne des Wortes überlebenswichtige Rolle.

Übers Ziel hinaus oder daran vorbei?

Die Behauptung steht im Raum: "TOR und VPN werden von Terroristen zur Planung und Koordinierung von Straftaten sowie für die Verbreitung und den Konsum rechtswidriger Inhalte benutzt. Daher müssen diese Werkzeuge verboten werden." Zweifelsohne gibt es Webseiten und Inhalte, die sich dieser Kategorie zuordnen lassen.

Zu argumentieren, dass Privatsphäre einem egal ist, weil man nichts zu verbergen hat, wäre genauso als würde man sagen, dass einem Redefreiheit egal ist, weil man nichts zu sagen hat.

Edward Snowden

Man würde meiner Meinung nach jedoch das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn man aufgrund der Möglichkeit der oben genannten Sachverhalte eine Technologie effektiv kriminalisiert, die anderen Menschen das Leben rettet oder zumindest erleichtert. Den Befürwortern dieser Gesetzgebung wird vorgeworfen, eine "Zensur durch die Hintertür" einzuführen oder die politische Opposition auszuschalten, indem man sie mundtot macht. Rhetorisch bewegen sich deren Gegner auf dünnem Eis: man wirft ihnen dann entweder die implizite Unterstützung von Terroristen vor, oder dass sie politisch missliebigen oder kriminellen Individuen Vorschub leisten wollen. Dem gegenüber steht eine vergleichsweise kleine Anzahl an Fällen, in denen diese Art von Maßnahmen tatsächlich einen echten Mehrwert bieten. Eine beispielhafte Analogie dieses Gedankenprozesses: Niemand käme auf die Idee, den Verkauf und die Nutzung von Autos oder Lastwagen mit der Begründung zu verbieten, dass diese in der Vergangenheit für kriminelle Zwecke genutzt wurden. Außerdem: die Tatsache, dass etwas illegal ist, spielt für entschlossene Verbrecher in der Regel eine eher untergeordnete Rolle.  

Auch das viel zitierte "DarkWeb" und dessen Gefahren spielt in den Überlegungen von Politikern zahlreicher Länder eine Rolle. Der TOR-Mitbegründer Roger Dingledine widerspricht allerdings dieser Sichtweise: "Es gibt kein DarkWeb. Es exisitiert nicht." Der Traffic der so genannten "Hidden Services" (für die oft als Synonym der Begriff "DarkWeb" verwendet wird) mache nur drei Prozent des gesamten Netzwerkverkehrs im TOR-Netzwerk aus. Der beliebteste und am häufigsten genutzte HiddenService ist übrigens der, den Facebook anbietet. Er wird etwa einer Million Menschen im Monat genutzt, denen der Zugang zu diesem Dienst ansonsten verwehrt bleibt.

Asymmetrie und Entwicklung

Terrorismus, im Sprachgebrauch von Verteidigungsexperten manchmal auch als "Asymmetrische Kriegsführung" bezeichnet, wird heutzutage oft zur Rechtfertigung für politische Maßnahmen herangezogen. Der unmittelbare Nutzen ist hier nicht immer augenfällig, was vielleicht auch ermittlungstaktische Gründe hat. Auch die Definition von "Terrorismus" wird in manchen Ländern zunehmend aufgeweicht, stellenweise bis zu einem Grad, an dem sich die Definition nicht mehr wesentlich von "politisch anders denkend" unterscheidet. Ich betrachte diese Entwicklung mit großer Sorge und hoffe, dass die Technologie nicht nach und nach großflächig "kriminalisiert" wird. In Russland ist ein großer Schritt in diese Richtung unternommen worden - ab dem 1. November ist die Nutzung von Proxydiensten - zu denen auch VPN gehört - per Gesetz verboten. Ausländische VPN-Anbieter existieren in China effektiv nicht mehr. Die auf dem chinesischen Markt verfügbaren und legalen Lösungen sind staatlich lizensiert und unter behördlicher Kontrolle. Apple musste sich kürzlich widerwillig dem Druck der chinesischen Behörden beugen und VPN-Apps aus dem chinesischen App-Store entfernen.

Bisher haben sich terroristische Akteure jedoch noch nicht in erkennbarer Weise davon abschrecken lassen, dass Kommunikationskanäle einem steigenden Überwachungsdruck ausgesetzt sind. Einen Beweis, dass die Kriminalisierung von Anonymisierungslösungen einen Erfolg in der Verbrechensbekämpfung einbringt, bleiben die wenigen verfügbaren Statistiken bislang jedenfalls schuldig. In Deutschland werden derzeit auch Maßnahmen diskutiert wie die Verfolgung terrorverdächtiger Personen mittels Videoüberwachung und Biometrie. Bewegungsprofile sollen erstellt und Gefährder so dingfest gemacht werden. Dass Biometrie jedoch auch fehleranfällig ist und nicht zu unterschätzende Nebenwirkungen mit sich bringt, zeigt ein Artikel des Deutschlandfunks - hier rechnet eine Expertin vor, dass man an einem Ort wie dem Berliner Hauptbahnhof selbst bei einer angenommenen Falschpositiv-Rate von nur 0,1 Prozent noch immer 300 Fehlerkennungen am Tag hätte - also 300 Menschen, die vom System fälschlicherweise als Gefährder oder Terroristen erkannt würden. Auch die Tatsache, dass man sich bei einer großflächigen Einführung der Technologie nicht mehr anonym bewegen könnte, wird von Vielen kritisch bewertet.

Für die Zukunft

Was das Thema Privatsphäre angeht, leben wir in interessanten Zeiten, in denen wir eine zunehmende Aushöhlung des Konzepts "Privatsphäre" beobachten. Gerade in Deutschland ist man aufgrund der Geschichte sehr sensibel bei diesem Thema.

Teilweise manifestiert sich dieses Geschichtsbewusstsein in dem, was international auch "German Angst" genannt wird. Der Begriff beschreibt die Zögerlichkeit, mit der manche Entwicklungen angegangen werden sowie die Reaktion auf neu entdeckte technische Möglichkeiten. Diese Zögerlichkeit ist oft ein Resultat von Befürchtungen, auf unbekanntem Terrain Fehler zu machen. In anderen Fällen ist sie auch das Ergebnis einer Entscheidung, deren Ziel es ist, vergangene Fehler nicht zu wiederholen. Diese "German Angst" ist in einigen Fällen sicher ein unnötiger Hemmschuh, der dazu führt, dass man langfristig international den Anschluss verliert - andererseits kann sie aber auch vorschnelle und nachteilige Entscheidungen verhindern. Man vollführt hier also einen Drahtseilakt zwischen einem zagenden "was wäre, wenn" und einem entschlossenen "Dieses Ereignis darf sich niemals wiederholen".

Deutschland hat zurecht den Ruf, eines der strengsten Datenschutzgesetze der Welt zu haben. Dieser Ruf ist ein direktes Resultat der Erfahrungen aus den letzten rund 80 Jahren. Dem stehen allerdings einige politische Bemühungen an anderer Stelle entgegen, welche Anonymität zunehmend erschweren oder - wie aktuell in Russland - verbieten wollen; hier allerdings wieder unter dem Banner der Terrorismus-Bekämpfung. Die entscheidende Frage in diesem Kontext scheint also zu sein, ob man wirklich die Anonymität von Menschen und damit ein Stück ihrer Privatsphäre untergraben und aushöhlen sollte, um eine abstrakte Art von "Sicherheit" zu gewährleisten.  In den Ländern, in denen Bemühungen um eine Kriminalisierung von Proxydiensten wie TOR und VPN vorangetrieben werden, bewegt man sich mit großen Schritten in Richtung Überwachungsgesellschaft, in der eine Variante der Firma "Firma Horch und Guck" nie weit weg ist.

Das politische Tauziehen wird jedoch voraussichtlich noch eine Weile andauern. Es ist bereits jetzt ein zermürbender Prozess, an dem die breite Öffentlichkeit wenig Interesse zeigt. Gerade jetzt ist jedoch der Zeitpunkt gekommen, an dem besondere Aufmerksamkeit geboten ist. So wurde, beinahe unbemerkt durch den Medienrummel um den G20-Gipfel in Hamburg, eine Änderung der Strafprozessordnung auf den Weg gebracht, die eine Reihe von Tatbeständen zu Katalogstraftaten erklärt hat - und im Rahmen dieser Neubewertung könnte zur Aufklärung dieser Straftaten auch eine so genannte "Quellen-TKÜ" angeordnet werden - zum Beispiel mit einem neu entwickelten "Bundestrojaner". Immer wieder werden in letzter Zeit Einschränkungen aus Sicherheitsgründen Einschränkungen in der persönlichen Freiheit beschlossen. Benjamin Franklin hat bereits 1775 in seinem berühmten Zitat auf gespannte Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit hingewiesen: "Wer grundlegende Freiheiten aufgeben würde, um ein wenig vorübergehende Sicherheit zu erkaufen, der verdient weder Freiheit noch Sicherheit". Zwar wurde das Zitat ursprünglich in einem anderen Zusammenhang verwendet, hat aber dennoch in der aktuellen Diskussion durchaus Relevanz.
Momentan scheint das politische Pendel häufiger in Richtung "Sicherheit" auszuschlagen.

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